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Nächtebuch 30.11.08 Eigenwerk
von Hunting aus der Kategorie Freier Text - Persönliches - Tagebücher

Nächtebuch
Was mir vor dem Einschlafen durch den Kopf geht, Geniestreiche, Banales, Gedankensplitter und Aphorismen, Träume und Beobachtungen.
Erstellt:    30.11.2008 02:25
Geändert: 04.02.2009 22:56
1294 Lesungen, 6.4KB

Das mit den Schneckenmenschen muss ich vielleicht erklären. Im Profil steht "Autist", das ist keine Koketterie, sondern meine Diagnose. Ich will aber hier nichts von irgendwelchen psychologischen Symptomen oder DSM-IV-Diagnosekriterien schreiben. Ich bin der festen Überzeugung, dass man uns mit sowas nicht wirklich beikommt. Gestern war mal der erste Samstag seit einer kleinen Ewigkeit, den ich mir frei nehmen konnte, dank des glücklichen Umstands, dass dieser November fünf Wochenenden hat; die vier Samstage sind sonst immer für meine Schneckenmenschengruppen verplant. Und auch sonst investiere ich einiges an Energie und Zeit in die Selbsthilfe, mache meine Vereinsarbeit im Vorstand von Aspies e.V., melde mich immer wieder in unserem Internetforum zu Wort, schreibe Beiträge für unseren Newsletter, mein Helfersyndrom und mein Devise "man hilft, wo man kann", treiben mich immer wieder dazu, aktiv für mein kleines, buntes Völkchen zu werden, auch wenn das bisweilen an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit geht - immerhin habe ich auch einen Vollzeitjob als Übersetzer. Es macht immer wieder Spaß, weil es wunderbar ist, zuzusehen, wie da vor einem dieses Paradox einer Gemeinschaft von Extremindividualisten, von Anti-Gruppen-Menschen Wirklichkeit wird. Und sie sind oft verdammt schwierig, immer muss man irgendwelche Streitigkeiten schlichten, weil es wieder mal ein typisches zwischenmenschliches, autismusbedingtes Kommunikationsproblem gibt oder weil zwei Streithähne mal wieder nicht über ihren Schatten springen können und ihre persönlichen Eitelkeiten kultivieren oder weil unsere Fundis sich mal wieder mit unseren Realos in der Wolle haben. Und wenn ich dann, wie diesen Donnerstag, mal wieder als Botschafter unseres Völkchens unterwegs bin, diesmal auf einem Psychologen-Kongress im ICC, um den Leuten da draußen zu erklären, was es bei uns für ungeahnte, und oft genug auch ungenutzte Talente, was es für einzigartige Persönlichkeiten zu entdecken gibt, dann passiert es schonmal, dass dann jemand aus dem Publikum fragt: "Wenn Ihre Gruppen aus so unterschiedlichen Leuten bestehen, passiert es dann nicht auch manchmal, dass sich dabei Autisten auch untereinander streiten?" und ich kann dann nur mit einem pathetisch dahingeseufzten "Ooohja" antworten und ernte Lacher. Nobody is perfect, nicht mal wir Schneckenmenschen. Das wird verstanden.
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Es ist ja auch nicht so, dass wir emotionsfreie Roboter ohne Mitgefühl wären. Wir sind halt, wie in allen Dingen, auch in Gefühlssachen ein wenig eigen. Was mich selbst angeht, ich bin in Liebesdingen Spätentwickler, aber mit 39 Jahren auch nicht mehr völlig unbeleckt von Erfahrungen. Es gibt Phasen, wo alles wunderbar leicht läuft, wo einem alles klappt. Dann vergesse ich auch die Angst vor Berührungen, mein vielleicht seit einer Weile vermisster Charme lässt sich wieder blicken, als sei er nie weg gewesen und dann plaudere ich der Dame, auf die ich meine Hoffnungen setze, angenehm ins Herz und bekomme nicht genug von der Art, wie sie lacht. Und manchmal bleibt es bei einer einzigen Verabredung und dem sei-mir-nicht-böse-aber und ich spiele auch zum Abschied noch den liebenswerten netten Kerl von Nebenan. Oder sie nimmt tatsächlich die eine oder andere kokette Zweideutigkeit auf, dann lachen wir, wenn wir im selben Moment denselben Gedanken aussprechen und das sind dann diese Momente, wo du weißt, jetzt hat sie dieses Champagnergefühl, diese Momente, die dann bleiben. Auch dann, wenn sie sich nach zwei Jahren in einen anderen Kerl verliebt, und irgendwann erfährst du, dass er anfängt, ihre Kinder zu schlagen und denkst dir, na toll, wegen so einem also. Und sie trennt sich von ihm und dann sagt sie dir, dass sie nicht zu seiner Beerdigung gegangen ist und du wirst so scheiß melancholisch. Drei Jahre seit dem letzten Kuss. Diese dumme Sehnsucht nervt manchmal. 
­Dann halte ich mich an den schönen Spruch:
­
Nimm das Leben nicht so ernst
­Wie es ist
­
­und mach irgendwas Verrücktes. Such mir ne neue Wohnung, mach nen Abstecher nach Paris, spring am Silvesterabend in einen halb zugefrorenen See, etwas in der Art. Das hilft. Es bewahrt einem zumindest davor, allein zu Haus zum Alkoholiker zu werden (ein Glück, dass ich mehr als zwei Gläser ohnehin nicht vertrage). Und ohne angeben zu wollen, aber ich bin nunmal Individualist, halte mich nicht für was Besseres, wohl aber für was Besonderes. Und deshalb besteht so schnell kaum die Gefahr, dass ich eine Reihenhaus-Existenz mit einem Reihen-Gehirn, ein Schlipsträger werde, der so fest mit beiden Beinen im Leben und auf dem Boden der Tatsachen steht, dass er gar nicht mehr weiß, wie das ist, wenn man es einfach mal wagt, zu springen, die Bodenhaftung zu verlieren. Schweben, träumen, den eigenen Gedanken bei ihrem kreativen Schlagabtausch zuzuschauen. Nicht, dass ich nicht wüsste, was Pflichten und Notwendigkeiten sind; manchmal muss ich die auch einigen meiner Schneckenmenschen predigen; das Leben ist weder eine Party, noch ein Wunschkonzert. Ich muss auch meine Miete bezahlen, hab Verantwortung, nicht nur für meine Aspie-Autisten. Man darf sich aber von alledem niemals lähmen, niemals die Lust am Leben rauben lassen. Also bleibe ich gespannt, dass morgen vielleicht, vielleicht übermorgen wieder eine unbekannte Schöne mich mit ihrem Lächeln bezaubert, dass dann mit der allergrößten Selbstverständlichkeit wieder mal eines dieser Wunder passiert, denn immer ist da doch diese Sehnsucht. Und dann schmeißt man seine ganzen Wahrscheinlichkeitsberechnungen in den Mülleimer, die einem sagen, dass das mit der großen Liebe und den zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, ja doch nur eine Fata Morgana für allzu romantisch veranlagte Gemüter sei. Und dann ist die Sorge weg, dass einem der Hotelgutschein für zwei Personen doch nichts nützen wird, weil sich nie im Leben eine Begleitung findet, die einen für ein paar Tage nach Paris begleitet. Nicht, dass ich gar niemanden kennen würde. Aber die Mondmaus im fernen Friesland, die mit dem verstorbenen Ex, die hat ihre Kinder; hier in Berlin habe ich meine Botticelli-Venus, für die ich auch nur der ewige gute Freund sein werde und überhaupt will sie lieber in die Tropen, aber dafür reicht meine Kasse dann auch wieder nicht. Egal, und wenn das Wunder auf sich warten lässt, fahr ich eben allein und lasse mich so von der Stadt inspirieren. Fasse mit Blick von Sacre-Coeur über die Stadt aus meine guten Vorsätze fürs neue Jahr, auf dass mich diese dumme Sehnsucht nie verlassen möge.
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