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Nächtebuch 20.11.08 Eigenwerk
von Hunting aus der Kategorie Freier Text - Persönliches - Tagebücher

Nächtebuch
Was mir vor dem Einschlafen durch den Kopf geht, Geniestreiche, Banales, Gedankensplitter und Aphorismen, Träume und Beobachtungen.
Erstellt:    20.11.2008 02:10
Geändert: 04.02.2009 22:57
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Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter Tag. Wer, bitte, hielte das aus? Ich halte das für einen Mythos, dass Menschen, die den Tod vor sich sehen, dadurch quasi voraussetzungslos und authentisch leben könnten. Der Tod, das ist vor allem der große Angstmacher. Solange der Mensch lebt, kann vom Tod nur eine Lähmung ausgehen. Die zum Tode Verurteilten werden das bestätigen; im Grunde sollten sie dankbar sein, wenn es nach denen geht, die meinen, im Angesicht des Todes werde man frei. Stattdessen die Angst, von der sich wir anderen, die das Glück haben, Tag und Stunde unseres Todes nicht zu kennen, nicht im Ansatz eine Vorstellung machen können. Man könnte sagen, dass manche sich den Zeitpunkt selbst aussuchen. Aber ist das wirklich so? Hat sich überhaupt jemals ein Mensch das Leben genommen, den nicht die Umstände dazu gezwungen haben? Jedenfalls halte ich es lieber mit Thomas Mann, der im Zauberberg seinen Castorp zu der Erkenntnis kommen lässt, dass man dem Tod um der Güte und der Liebe willen keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen darf. Kein Flirten mit dem Jenseits also. Es zählt das Hier und Jetzt, man hat sich zu bewähren, ob man will oder nicht.

Dabei ist der Gedanke, der hinter diesem "als wäre es dein letzter Tag" steckt, ja gar nicht so verkehrt. Es geht um den Neuanfang, um den Aufbruch. Das sollte aber auch ohne den großen Angstmacher gehen. Deshalb vielleicht besser: Lebe jeden Tag, als wäre es ein neuer Tag. Stell die Uhr zurück auf null. Es gibt jemanden, mit dem du seit Jahren auf Kriegsfuß lebst? Gib dir vielleicht einen Ruck, sag ihm, man könnte versuchen, nochmal neu anzufangen; wenn er dich dann nochmal enttäuscht, hast du es wenigstens versucht. Oder die Paare, die sich nach Jahren einander entfremdet haben, die verlernt haben, miteinander zu reden; warum nicht verrückt genug sein und ein Rendezvous miteinander vereinbaren, als sähe man sich zum ersten Mal? So oft wünscht man sich, man könnte ausbrechen aus dem Trott. Warum es nicht versuchen? Die schwierigste Sportart ist das Springen über den eigenen Schatten, aber es ist nicht unmöglich. Manchmal muss man sich ein bisschen Naivität zurückerobern. Um der Güte und der Liebe willen. Irgendwo muss man ja am Ende hin mit seiner Sehnsucht und seiner Liebe, die sich so wenig gänzlich unterdrücken lassen wie die Gräser unter den Gehwegplatten, durch deren Ritzen sie immer wieder den Weg zur Sonne finden.

Wenn man also philosophieren mag, dann ist das Philosophieren über das Leben deutlich ergiebiger als das über den Tod. Ist das nicht ein geradezu irrsinniges Wunder, dass es mich gibt? Genausogut könnte es dieses Universum auch ohne mich geben; letztlich ist meine Existenz die Folge einer unwahrscheinlichen Kombination von Zufällen. Aber ich bin da, mag sein, dass es eben doch kein Zufall ist. Ich bin nicht religiös, aber manchmal kann es nicht schaden, ein Gefühl der Dankbarkeit zu kultivieren, statt alles so selbstverständlich hinzunehmen, dass es seinen Wert verliert. Und wenn alles ein großes Spiel ist und jeder Tag ein Teil dieses Spiels, dann gilt auch: Neuer Tag, neues Spiel, neues Glück. Jeder Mensch bekommt jeden Tag eine neue Chance. Es ist nicht schlimm, wenn man einige seiner Chancen in der Vergangenheit verpasst hat. Die Vergangenheit kann kein Mensch ändern. Die Zukunft schon.




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