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Ruhestörung Eigenwerk
von kasselklaus aus der Kategorie Geschichte - Nachdenkliches, Ernstes

Kurzgeschichten aus 30 Jahren
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Erstellt:    12.10.2008 09:50 1865 Lesungen, 11.9KB

Von fern - wahrscheinlich durch die bis in den Keller gehenden Schächte der Lüftung - hörte man immer wieder einmal gedämpft die Salven der Schüsse. Aber ich hatte mich daran gewöhnt, schließlich war es ein Geräusch wie der Straßenlärm geworden, der von unten hinaufdrang.

Und nun hörte ich wieder einmal die Schüsse und dachte darüber nach. Plötzlich, aus unerfindlichen Gründen, waren sie für mich nicht mehr so unbedeutend wie die Motorgeräusche - jede Schußsalve stand für mich plötzlich für ein beendetes Menschenleben. Ich saß hier an meinem Schreibtisch, tat meine Arbeit und im gleichen Haus wurden zur gleichen Zeit Menschen hingerichtet.

Ich griff nach dem Telefonhörer und wählte die passende Nummer.

"Stellen sie sofort das Schießen ein!" befahl ich, "es ist unmenschlich und darüberhinaus auch unsinnig!"

Mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung schien erstaunt. "Wir sollen die Exekutionen wirklich einstellen?" fragte er daher nach.

"Ja!" sagte ich sehr bestimmt.

"Gut, ich werde ihren Befehl ausführen, möchte sie aber bitten, mir das auch schriftlich zu geben. Schließlich muß ich mich auch gegenüber meinen Vorgesetzten absichern."

"Das kann ich verstehen", sagte ich. "Ich werde veranlassen, daß sie bis morgen früh den Befehl schriftlich bekommen!"

Er gab sich geschlagen. "Also gut", sagte er, "sie tragen die Verantwortung, und ich führe nur Befehle aus."

"Richtig!" sagte ich kalt und legte auf.

Ich lauschte. Ich hörte nun tatsächlich keine Schüsse mehr.

Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Sonne war hinter den dunklen Wolken hervorgekommen und erhellte die Straßenschluchten zwischen den Hochhäusern. Deutlich konnte ich die Autos sehen, die die Größe von Spielzeug hatten. Die geschäftig sich bewegenden Menschen waren kaum zu erkennen. Ich hätte jetzt gern die Fenster geöffnet, frische, kühle Luft geamtet, doch die Fenster ließen sich nicht öffnen, dieses Zimmer wurde wie alle Zimmer des Hauses durch die immer gleich temperierte Klima- und Lüftungsanlage versorgt.

Mein Blick fiel auf den LKW. Er kam aus der Garage des Hauses. Ich wußte, was er beherbergte: Genau 20 schwarze Plastiksärge mit ebensoviel Toten. Was würde jetzt mit dem Fahrer des Wagens geschehen? Würde er nun arbeitslos? Unsinnige Gedanken. Ich hatte vielen Menschen das Leben gerettet!

Ich beschloß hinunterzufahren. Meine Sekretärin sah mich erstaunt an, denn ich pflege mein Büro nie während meiner Arbeitszeit zu verlassen - aus Sicherheits- und aus Bequemlichkeitsgründen.

Meine Leibwächter, ein Mann und eine Frau, saßen eng umschlungen in ihrem Aufenthaltsraum und fuhren erschrocken auf, als ich die Tür öffnete.

"Ich fahre hinunter", sagte ich, "kommen sie mit?"

Die Frau glättete ihr Kleid. "Selbstverständlich!" sagte der Mann.

Zu dritt gingen wir zum Fahrstuhl. Ich fuhr immer sehr ungern mit diesem Fahrstuhl. Er bewegte sich sehr schnell, und wenn er abbremste, löste das unangenehme Empfindungen bei mir aus.

Schließlich hatten wir den Keller erreicht und verließen den Fahrstuhl; die Wachen erkannten mich und grüßten.

Mir wurde bewußt, daß ich zum ersten Mal hier unten war.

Wir gingen in das Zimmer des Leiters der Abteilung. Der sah mich erstaunt an. "Sie?" fragte er.

Ich lächelte. "Warum auch nicht", entgegnete ich. "Ich möchte mir einmal einen der Exekutionsräume ansehen!"

Ich merkte ihm an, daß ihm das alles unangenehm war. Aber natürlich mußte er meiner Bitte Folge leisten. Wir gingen durch lange, von Neonröhren erhellte Flure, deren Wände aus Beton bestanden. Ähnlich wie in einem Gefängnis mußten wir einige verschlossene Türen passieren.

Schließlich erreichten wir eine Stahltür. Der Leiter der Abteilung schloß die Tür auf und ließ mir den Vortritt.

Ich hatte keine bestimmten Vorstellungen von diesem Raum gehabt, aber trotzdem überraschte mich seine Ausstattung. Er enthielt keinerlei Mobiliar, an der Decke waren einige grell strahlenden Neonröhren angebracht, drei Wände und der Fußboden bestanden aus blauem Kunststoff.

"Wasserabstoßend", erläuterte der Leiter der Abteilung knapp. Ich erinnerte mich an die farbpsychologische Erkenntnis, daß von blau eine beruhigende Wirkung ausgeht. Die vierte Wand bestand aus einem metallischen Material, daß viele Einschußmulden enthielt. Ich vermutete, daß vor diese Wand die Exekutionsopfer gestellt wurden.

Der Leiter der Abteilung wies auf einen neben der Eingangstür angebrachten Knopf. "Wenn ich den drücke, wird der Boden automatisch gereinigt. Sie verstehen - Blut, Urin ..." Ihm war es sichtlich unangenehm, das alles so offen zu erklären. Neugierig drückte ich den Knopf. Aus unzähligen kleinen Düsen strömte nun Wasser die Wände hinunter, den Boden entlang und sammelte sich in einem Abfluß in der Mitte des Raumes. Wir standen im Eingangsbereich. Hier waren keine Düsen angebracht und der Boden etwas erhöht, sodaß man hier trocken blieb.

Es sah alles sehr sauber, sehr hygienisch aus, aber vielleicht gerade auch deswegen empfand ich es als erschreckend.

"Wenn sie schon einmal hier sind - . Von meinen Kollegen ist schon mehrfach der Wunsch an mich herangetragen worden, eine humanere Tötungsmethode anzuwenden. Denkbar wäre zum Beispiel Gas oder der Entzug von Sauerstoff, dann ermüden die Leute langsam, unmerklich gleiten sie in den Tod."

Ich entgegnete darauf nichts.

"Macht ihnen ihr Beruf Spaß?" fragte ich stattdessen.

"Selbstverständlich!" sagte der Abteilungsleiter.

"Nein, nein", ich schüttelte ärgerlich den Kopf, "ich will ihre ehrliche Meinung hören!"

Der Abteilungsleiter zögerte, wirkte verunsichert.

"Nun", sagte er, "es gibt sicher angenehmere Arbeitsplätze, aber ich sage mir, einer muß ja diese Arbeit tun, wenn ich es nicht mache, dann macht es ein anderer. Ich habe im übrigen nur Anordnungen auszuführen, die Verantwortung tragen andere."

"Sie haben recht", meinte ich. "Und nun zeigen sie mir bitte die Räume, in denen sich die Tötungskandidaten bis zu ihrer Erschießung aufhalten."

"Wir sollten uns besser dort nicht sehen lassen. Diese Menschen sind wie Tiere!"

"Ich will sie sehen", sagte ich nachdrücklich.

"Also gut." Der Abteilungsleiter drückte einen Knopf. Wenige Sekunden später erschienen fünf schwer bewaffnete Männer. Zusammen mit meinen zwei Leibwächtern standen nun acht Personen um mich herum.

"Gehen wir," sagte ich. Wir verließen den Exekutionsraum und gingen nun einige Meter durch den Flur. Schließlich erreichten wir eine Stahltür, auf der ich "Saal 2" las. Wir blieben vor der Tür stehen.

"Wollen wir jetzt hineingehen?" fragte er mich und schien zu hoffen, daß ich meinen Entschluß revidiert hätte.

Wortlos nickte ich. Der Abteilungsleiter schloß die Tür auf. Die Wachmänner ging als erste durch die Tür in den Saal, ihre Maschinengewehre in den Händen haltend. Es war sehr still. Ich ging nun ebenfalls durch die Tür.

Ich hatte kaum Gelegenheit, die vielen auf dem Boden sitzenden oder liegenden Menschen zu betrachten, denn plötzlich sprang im entfernten hinteren Teil des Raumes ein Mann auf. Er wollte sich offensichtlich auf mich stürzen. Wild gestikulierend beschimpfte er mich. Die Wachen riefen mehrfach "Stehenbleiben!" doch er hielt nicht inne. Die Wachen schossen. Die Menge schrie auf. Tödlich getroffen fiel der Mann zu Boden. Ich sah, daß aus mehreren Wunden gleichzeitig das Blut strömte.

Ich wandte mich ab, das sah ekelerregend aus.

"Mörder", rief plötzlich einer der Gefangenen, dann wurden es immer mehr, schließlich schrieen sie alle: "Mörder! Mörder!"

Ich ging hinaus. Ich war erschüttert. Rückwärts gehend, die Waffen noch immer auf die schreiende Menge gerichtet, verließen die Wachen dann ebenfalls den Raum.

Als wir alle draußen standen, die Stahltür wieder geschlossen war, bedankte ich mich bei dem Leiter der Abteilung. Er nickte: "Ich habe ihnen zu danken, daß sie uns hier einmal besucht haben." Er zögerte einen Moment. "Ist ihr Befehl, die Exekutionen einzustellen, endgültig?" fragte er schließlich.

Ich wußte es nicht und sagte zu ihm, daß ich mir das überlegen müßte.

Der Leiter der Abteilung begleitete mich noch bis zum Fahrstuhl.

"Was halten sie davon?" fragte ich meine beiden Leibwächter, während wir hinauffuhren.

"Ich finde das alles nicht sehr schön", sagte die Frau vorsichtig, "wissen sie, warum diese Leute hingerichtet werden?"

Nein, ich wußte es nicht. Darüber hatte ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht.

"Es wird sicher schon einen Grund dafür geben", sagte ich und fand dieses Argument wenig zugkräftig. "Allerdings fällt die Entscheidung über die Hinrichtung auch nicht in meine Zuständigkeit", versuchte ich meine Unwissenheit auch vor mir selbst zu entschuldigen.

Als wir oben angekommen waren, sagte ich zu meinen Leibwächtern scherzend, daß sie nun ihre Arbeit fortsetzen könnten.

"Sehr gerne", sagte die Frau lächelnd.

Meine Sekretärin erwartete mich schon. "Der Chef hat angerufen. Sie sollen ihn nach ihrer Rückkehr sofort anrufen!"

Ich glaubte zu wissen, was er von mir wollte.

Schnell ging ich in mein Büro, setzt mich an den Schreibtisch und dachte einen Moment nach. Irgendwie bereute ich meinen impulsiven Entschluß, die Exekutionen einstellen zu lassen. Möglicherweise hatte ich damit meine Kompetenzen überschritten. Vermutlich war ich einfach auch überarbeitet, außerdem hatte ich private Probleme, die mich belasteten: Der Hausbau, der Tod meiner Schwester. Hoffentlich verstand das mein Chef.

Etwas ängstlich wählte ich seine Telefonnummer.

Er war sehr verärgert.

"Warum haben sie die Exekutionen einstellen lassen?" fragte er mich gleich.

"Weil sie mir unmenschlich und unsinnig erschienen", sagte ich. "Aber möglicherweise war die Entscheidung falsch. Wissen sie, ich bin zur Zeit ziemlich überarbeitet..."

"Mit ihrem Befehl, die Exekutionen einzustellen, haben sie ihre Kompetenzen überschritten. Ob das geahndet wird, habe ich nicht zu entscheiden."

Nun traute ich mich doch noch eine Frage zu stellen, die mich brennend interessierte: "Wissen sie eigentlich, warum diese Leute exekutiert werden?"

Mein Chef war verwundert. "Seit wann interessiert sie denn das?"

"Ich war heute zum ersten Mal in den Räumen hier im Haus, in denen die Exekutionen durchgeführt werden. Es war schlimm."

"Das glaub' ich ihnen", sagte mein Chef, er zögerte einen Moment, "Genaues kann ich ihnen auch nicht sagen, ich vermute, daß es sich um notorische Querulanten handelt. - Aber ich werde mich erkundigen." Wieder zögerte er einen Moment. "Übrigens wußte ich gar nicht, daß die Exekutionen in ihrem Haus stattfinden - aber das fällt ja auch nicht in meinen Zuständigkeitsbereich."

"Ich werde anordnen, daß die Exekutionen wieder aufgenommen werden", sagte ich schließlich zu meinem Chef. Ich wollte nicht meinen Job verlieren, außerdem hatte ich Angst vor einer Bestrafung.

"Gut", sagte mein Vorgesetzter nur und verabschiedete sich.

Ich legte kurz den Hörer auf und wählte dann eine Nummer.

"Machen sie zunächst weiter", sagte ich zu meinem Gesprächspartner.

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