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Ganz nah bei dir Eigenwerk
von sister aus der Kategorie Geschichte - Erfahrungen

short stories, lyrics & more
...rund um Leben, Sinn und Sein
Erstellt:    05.10.2007 00:09
Geändert: 06.10.2007 09:26
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Gibt es einen trostloseren Ort als einen Bahnhof am frühen Morgen? Es ist, als würdest du in einem fremden Bett aufwachen. Alles ist fremd und will es auch bleiben. Alles nennt dich Eindringling. Eine Gegenwart, in der du bestenfalls nicht stattfindest und die schlimmstenfalls von dir fordert, alles ungeschehen zu machen. Dich eingeschlossen.
Dementsprechend verhältst du dich auf dem Bahnsteig. Du denkst dich weg oder versuchst es zumindest. Du wendest den Blick nach innen. Als sähe es dort weniger trostlos aus.

Zum Abschied hat er dich so umarmt, dass es weh tat. Nicht so fest, im Gegenteil, so leicht. So beiläufig, als wärst du längst fort. Dabei war er es, der gegangen war vor langer Zeit, mit einem Teil von sich und einem Teil von dir. Unbemerkt hatte er ein Stück von dir mitgenommen, im Vorübergehen amputiert. Ein Betriebsunfall im Unternehmen Liebe. Eine Alltäglichkeit, die nur deshalb wie eine Katastrophe aussieht, weil sie dir geschehen ist.

Nur eine Episode in meinem Leben, hast du dir schon oft erzählt, aber deine Kiefer blieben dabei aufeinandergepreßt, als hättest du Angst ins Kissen zu beißen.
Eine Phase, nennt es deine beste Freundin, weil sie das Thema seit geraumer Zeit leid ist.
Vorauszusehen, meint deine Mutter, die geradezu hellsichtig ist, was deine Vergangenheiten betrifft.
Es war, meint das Leben, aber du hörst nicht zu. Denn für dich war es nicht, es ist. Eine Gegenwart, die ohne dich stattfindet. Und so kommt dir für einen kurzen Moment der Bahnhof heute morgen fast wie eine verdiente Strafe vor.
Du schüttelst den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben, aber sie fallen nur einen Stock tiefer, ohne sich etwas zu brechen.

Wer, fragst du dich zum tausendsten Male, hat uns nur mit dem Fluch belegt, geliebt werden zu wollen? Gott? Oder sein Gegenspieler? Unsere Eltern? Ist es vielleicht das, was man Erbsünde nennt? Am Ende, wir uns selbst?
Frag dich nicht, sondern laß ein halblautes "verdammt" aus deinem Mund schlüpfen. Dass sich niemand der Umstehenden umdreht, wird dir ein stummes Einverständnis sein. Vielleicht paßt das Wort aber auch einfach nur zu gut in diese Umgebung.

Du schaust kurz nach vorn auf den graubraunen Schotter und nicht zum ersten Mal kommt dir ein Bahnhof so vor, als wären mit ihm alle schmutzigen Gedanken über den Fortschritt Wirklichkeit geworden. Niemand wird dir sagen, ob es stimmt.
Doch sieh dich nicht um. Rechts von dir steht eine Frau, die dich im ersten Augenblick so sehr an deine Mutter erinnert, dass du instinktiv zurückzucken würdest. Und der Mann zu deiner Linken sucht mit seiner Zunge so intensiv in seinen Zahnzwischenräumen nach Essensresten, dass es mehr wäre, als du ertragen könntest. Dafür bist du zu sensibel. Deine Phantasie schreibt sich noch mit Ph.

Er hat beim Abschied Erfolg gewünscht und eine gute Reise und eine sichere Wiederkehr. In dieser Reihenfolge. Irgendwem, wohlmöglich sogar dir. Deshalb wünsch dir jetzt selbst »Gute Reise und viel Erfolg«, als wäre das leere Gefäß seiner Worte im Nachhinein zu füllen.

Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen hält der Intercity, und die Menschen auf dem Bahnsteig setzen sich wie an unsichtbaren Fäden gezogen in Bewegung. Lautsprecherdurchsagen klingen dir wie Kassandrarufe in den Ohren. Krächzen Unverständliches wie Aussagen fürs Protokoll, nur um nachher behaupten zu können, man hätte ja schließlich laut genug gewarnt. Elterndurchsagen an Kinder, die nicht hören wollen. Und du verstehst noch immer nicht.

Die knappe Aufenthaltsdauer des Zuges verbreitet Nervosität und läßt keinen Zweifel daran, wer hier wem dient bei den Menschen und ihrem Werk. Die Leute drängeln und legen in Bruchteilen von Sekunden jahrelange Erziehung zu Fairneß und Zurückhaltung ab. Du bist Zeuge der Evolution. Mehr noch: Auch in dir regt sich erstmals seit langem wieder Überlebenswillen. Du willst deine Art erhalten und dabeisein, wenn auf den nächsten Ast gesprungen wird. Jedenfalls auf den nächsten Zug.
Den letzten beißen die Hunde und wer nicht schnell genug ist, bleibt außen vor. Du willst nicht warten bis sich die Türen vor deiner Nase schließen. Die Summe aller verpaßten Gelegenheiten läßt dich starrsichtig werden und das ältere Ehepaar an deiner Seite mißachten, das zweifelnd versucht antiquierten Anstand zu wahren und so sich selbst dem Aussterben preißgibt. Statt sie vorzulassen trittst du noch einen energischen Schritt nach vorn. Genug verpaßt, rechtfertigst du das später vor dir, nicht auch noch den Zug. Deinen Zug.

Im Abteil wird sich die Behauptung, im Deutschland der 90er Jahre gäbe es fast nur noch Nichtraucher, als Wunschdenken entlarven. Das Großraumabteil für Raucher der 2. Klasse ist gut gefüllt. Du erinnerst dich gerade noch rechtzeitig, einen Sitzplatz reserviert zu haben, bevor du dich im allgemeinen Reise-nach-Jerusalem-Bundesbahn-Spiel beinahe neben einen feisten Reisenden gesetzt hast, der sein Laptop wie einen Stammhalter auf den Knien balanciert.
Wenn du dich durch die zu engen Gänge quetschst, schickst du im Geiste Bittpsalmen aus, dass deine teuren Seidenstrümpfe nicht an einer Kofferkante oder einem Beutelverschluß hängenbleiben. Die Menschheit fliegt zwar schon seit einem Vierteljahrhundert auf den Mond, aber reißfeste Nylons hat man angeblich noch nicht erfunden. Auch keine, nach denen man sich abends nicht das Fleisch von den Beinen kratzen möchte, fällt dir ein. Das kannst du nicht glauben, aber wer kann das schon.
Auf deinem reservierten Platz sitzt ein nadelgestreifter Geschäftsmann, der »Die Zeit« studiert, als hätte er sie selbst geschrieben und würde sie jetzt Korrektur lesen. Für einen Augenblick bist du versucht, dich wortlos auf einen anderen Platz direkt hinter ihm zu setzen, aber der Selbsterhaltungstrieb vom Bahnsteig klingt noch in dir nach und außerdem hast du es dir selbst versprochen. Du wolltest dir nehmen, was dir zusteht. Erinnerst du dich?
Siehst du, es ist nicht viel passiert. Er hat dich mit zwei Blicken bedacht, einem echoffierten und einem überraschten, seine »Zeit« genommen und sich geräuschvoll auf den anderen Platz gesetzt. Eine Entschuldigung hat ihm sein Ego verboten. Sei nachsichtig mit ihm. Er übt noch, genau wie du. Ihr seid euch ähnlicher als dir lieb ist. Würdest du dich sonst gleich in dein Buch vergraben?
Die Umgebung ist viel zu hektisch, als daß du hier Ruhe zum Lesen fändest. Zu viel Bewegung unter dir, um dich herum und vor allem in dir selbst. Laß es sein und schau hinaus, schließlich hast du einen Fensterplatz.

Du aber schaust nach vorn.

Gegenüber sitzt eine ältere Dame. Ihr Blick huscht wie ein Schmetterling über dein Gesicht. Er berührt sacht die kleinen Falten um deine Augen, die tieferen Kerben zwischen Nase und Mundwinkel, begrüßt das leicht erschlaffte Bindegewebe an deinem Hals wie einen Freund und kehrt dann zurück in ihre Augen, als wohnte er in dem dunklen Kissen der himmelblauen Irisblume. Es war ein Blick, der euch verschwistert hat, gegen deinen Willen. Der dich willkommenhieß im Kreise der Älterwerdenden.
Du fühlst dich ertappt und gedemütigt. Du möchtest ihr am liebsten entgegnen, daß du erst 39 bist und noch lange nicht dazugehörst, weil du noch so viel vor dir hast. Aber das würde alles nur schlimmer machen. Vielleicht würde sie dich fragen, was genau du damit meinst, und du müßtest dir blitzschnell etwas einfallen lassen. Deshalb sagst du es dir nicht einmal selbst.
So bist du dem Unrecht entgangen. Den Botschafter wegen seiner Botschaft zu töten, hat schon vor Jahrhunderten nichts genützt. Außerdem: siehst du nicht, wie ihr Mund dich anlächelt? Mit welcher Wärme und Selbstsicherheit? Als wüßte sie um deinen stummen Vorwurf, um deinen Schmerz, als wäre sie sogar willens dir Hoffnung zu geben, dass es Heilung gibt.

Wenn du schon nicht aus dem Fenster sehen wolltest, dann sieh auch genauer hin.

Die Würde hat ihr Rückgrat gerade gehalten, derweil ihr Gesicht eine einzige Erinnerung ist: an Schönheit, an lustvolle Blicke in den Spiegel, an Schmetterlingsflüge auf sie begehrende Männergesichter. Glaubst du nicht, dass ihr die Erinnerung oftmals wehgetan hat? Hat sie nicht wohl tausendmal den Spiegel verflucht, als ihre Schönheit verging? War ihr Schmerz nicht viel größer als deiner, die du - und danke allabendlich dafür - zwar attraktiv, aber keine Leinwandschönheit bist?
Vielleicht war sie all die Jahre unsicher, ob sie um ihrerselbst willen geliebt wurde. Wenn sie klug war, hat sie einen Mann des Geldes wegen geheiratet, um einen fairen Ausgleich zu schaffen. Ja, sie wird sich gut verheiratet haben, denn an ihren welken Händen verhöhnen sie Diamanten mit Unvergänglichkeit. Wenn sie Glück hatte, wurde sie Witwe, bevor sie miterleben mußte, wie jemand ihre Nachfolge antrat, bei einem Mann, der nun mal nicht anders konnte, weil seine wahre Liebe der Schönheit selbst galt, nicht deren Vertreterinnen. Wenn sie Pech hatte, hat sie ihn trotzdem geliebt.
Sieh, wie einsam ihre Haut ist. Sie ist einsam, weil sie sich erinnert. Sie hat jahrelang verehrende und leidenschaftliche Liebkosungen erfahren, bis sie glaubte, einen Anspruch darauf zu haben. Doch Haut kann sich nicht erinnern, ohne zu leiden und leiden zu lassen. Haut braucht Gegenwart.
Wenn du sie ansprechen würdest, könnte es sein, daß sie dir als Resümee ihres Lebens präsentierte: "Mein Leben war wie ein Filmtitel, der immer falsch übersetzt wurde. Denn es heißt nicht ´Die Schöne und das Biest´ sondern ´Die Schönheit ist ein Biest´..."
Aber du glaubst nicht, dass sie so negativ denkt, bei so einem Lächeln und so blauen Augen. Und du hast Recht. Denn: Es stimmt zwar, sie ist Witwe und hat viele Jahre damit gehadert zu verblühen, aber seit geraumer Zeit ist sie frei. Zum ersten Mal WIRKLICH frei.
Sie fährt nämlich gerade in Urlaub. An die Adria. Dort wird sie sich in einem Nobelhotel verwöhnen lassen, ihr Frühstück auf der Suiteterrasse einnehmen und sich am Nachmittag am Strand sonnen. Sie wird lautlos in sich hineinlachen, dass sie jetzt endlich im Liegestuhl liegen kann, ohne darauf zu achten, ob ihr die Sonne Badeanzugstreifen auf die Schultern malt. Sie wird die Augen schließen und ihre Haut in die Gegenwart zurücklocken. In die Wärme der Sonne und in die Kühle der Brandungswellen, in denen sie herumhüpfen wird wie ein ausgelassenes Kind. Nein, freier noch als ein Kind, denn sie war ein schönes Kind. Und wenn sie abends beim Souper mit einem angegrauten Ruhestandsauswanderer flirtet, wird sie ein paar Tropfen Champagner an ihrem Handrücken hinunterlaufen lassen, nur weil es so schön prickelt. Ihr Gegenüber wird nichts davon bemerken. Selbst du hättest es nicht gesehen. Weil du es ihr gar nicht zugetraut hättest, wenn du ehrlich bist.

Also sieh einfach wieder aus dem Fenster, wofür hast du sonst diesen Platz reserviert?
Wenn du wieder an ihn denken mußt, fasse dich kurz. Laß es vorbeigehen, vorbeiziehen wie die Landschaft, durch die du fährst. Bleib nicht auf dem Bahnhof stehen, wenn du eine Fahrkarte hast. Und du hast eine.
Berühre für einen Moment mit allen zehn Fingerspitzen das kalte Fensterglas. Spürst du die Kälte? Folge deiner Haut in die Gegenwart.
Du fährst. Du sitzt im Zug und fährst an dein Ziel. Niemand kann dich aufhalten, niemand will es. Freu dich auf deine Besprechung, die erfolgreich sein mag oder nicht. Es gibt Wichtigeres.
Bleib ganz nah bei dir.
Ich bin es auch.
Für immer.

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