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Kleine Geschichten Eigenwerk
von QaDeS aus der Kategorie Geschichte - Orte und Dinge

Wirre Gedanken
Das Gehirn ist wunderbar. Ununterbrochen plappert es mit sich selbst; die Ergebnisse sind hier zu bewundern.
Erstellt:    21.11.2003 00:00
Geändert: 27.05.2005 00:55
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Sie leben in der Gosse, am Wegrand, im Gleisbett zwischen den Bahnschienen - überall, wo wir gehen liegen sie herum, achtlos weggeworfen, verloren, zerstört...einfache Dinge, die jeder kennt und jeder benutzt. Kleine Gegenstände, die fortlaufend ihre Geschichte erzählen. Doch niemand hört ihnen zu, Sie sind zu klein, um wahrgenommen zu werden, zu klein, allein zu überleben. Sie liegen nur da und warten darauf, dass der Wind sie wegweht, oder sie von der Strassenreinigung beseitigt werden.
Der Griff eines Regenschirms liegt da unten, als hätte er die letzte Bahn verpasst. Eingekauert zwischen den Schienen fristet er einsam und verlassen sein Dasein - nichts als ein kleiner Stock, der doch einst so nützlich war. Der Lack auf seiner Oberfläche ist schon gerissen, Tausende kleiner, dunkler Linien überziehen ihn. Er hat schon viele Regen erlebt, so scheint mir, auf den schmutzigen Steinen liegend und nutzlos, wie er ist.
Der Schirm liegt ein paar Meter weiter. Das heisst, der Teil von ihm, der sich nicht in der Bahn verfangen hat und nun nach Irgendwo unterwegs ist, eingeklemmt zwischen Eisenstangen, Federn, Schrauben und Blech, unter dem riesigen Gefährt. Oder vielleicht hat er sich schon gelöst und liegt nun auf der Strecke herum, als fehlender Teil dieser riesigen, abgestürzten Fledermaus.
Ich frage mich, wie das wohl passiert sein mag. Sehe eine Frau, gebückt gehend unter der Last ihres Alters. In einer Hand hält sie eine Einkaufstasche, die ihr viel zu schwer ist - wieder für zwei gekauft, denkt sie, doch sie ist allein seit nunmehr zwei Jahren. Sie zittert. Es ist kalt und nass, der strömende Regen um sie herum verdunkelt ihre Sicht. An ihr vorüber ziehen Horden von jungen, flinken Menschen, die sie auf ihrem Weg nach Hause behende umschiffen, sich mit Zeitungen oder ihren Koffern vor dem Regen schützend. Einer bleibt mit dem Ellenbogen an ihrem Schirm hängen. Ein grosser, gut gekleideter Mann, der so freundlich ist, einen kurzen Blick nach hinten zu werfen und ihr entschuldigend zuzulächeln. Sie kann den Schirm mit ihren schwachen Fingern eben noch gerade halten, während er mit grossen Schritten auf die Unterführung zuhechtet. Ihr Mann hätte ihm schon Manieren beigebracht, denkt sie, er konnte immer so wunderschön auf die jungen Leute schimpfen. Bei der Erinnerung zieht ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht, gerade genug, um eine kleine Träne zurück zu halten. Den Schirm hätte er mir auch gehalten, denkt sie, und umklammert den Griff noch ein wenig fester.
Die Türen der Bahn schliessen sich hinter den Massen, die eben noch drückend und schubsend einstiegen. Einen Moment scheint es, als würde sich die alte Frau rückwärts bewegen, einen obskuren Moonwalk auf dem Bahnsteig hinlegen. Doch dann zieht Wagen um Wagen an ihr vorbei, und sie verlangsamt ihren Schritt, umklammert den Schirm, bereitet sich auf den Sog vor, der ihn ihr aus der Hand zu reissen droht.
Und er tut es. Die unsichtbare Pranke greift nach ihm, und eine Sekunde später segelt er unkontrolliert schwankend hinter der Bahn her. Der erste Tropfen geht auf ihrem gekrümmten Zeigefinger nieder, der sich, fast als Reaktion darauf, entfaltet wie eine Wüstenblume. Sie hat ihren Schutz verloren, kein Grund mehr, festzuhalten. Der Regen prasselt auf sie hernieder, durchnässt ihr Haar, ihre Kleidung, und sie wünscht sich nichts sehnlicher als ihren Mann zurück, der ihr immer zur Seite stand, sie wärmte und schützte, niemals von ihr wich.
Allein steht sie da, auf dem Bahnsteig. Ihre Tränen vermischen sich mit denen des Himmels, und ein Rinnsal fliesst ihren Ärmel hinab in die Tasche. Schwemmt sich seinen Weg durch den Lauch, verfängt sich kurz im Gemüse, um sich dann auf dem frischen Brot niederzulassen, und darin zu versickern.
Als der Schirm im Gleisbett landet, steht sie nur noch da, und niemand kann sagen, ob es nur der Regen ist, den sie sich von der Wange wischt. Niemand da, der kurz hinabspringen und ihr das genommene wiederbringen könnte. Das Schicksal meinte es gut mit ihr, irren meine Gedanken weiter, der Regen, der kalte Wind...sie wird nicht lange weinen.
So schweife ich über den Bahnsteig, mein Blick gesenkt, versunken in die Geschichten, die überall um mich herum liegen. Die meisten traurig, einige tragisch, und sie passieren jeden Tag, ohne dass wir davon Notiz nehmen. Die meisten bleiben ungehört und ungesehen. Und wenn eine ins Bewusstsein steigt, ist sie meist melancholisch. Wie diese.
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